Klaus Walter Coaching und Supervision
Sozialisationsbedingungen junger Menschen und Auswirkungen
auf psychische Entwicklung und seelische Störung
November 2002
Der
Versuch,
meine
subjektive
Einschätzung
der
Veränderung
in
den
Störungsbildern
junger
Menschen
durch
Statistiken
zu
objektivieren,
endete
für
mich
frustrierend.
Nachfragen
bei
Krankenversicherern,
Psychiatrien,
im
Niedersächsischen
Ministerium
für
Familie,
Gesundheit
und
Soziales
und
den
speziellen
Beratungsstellen
verliefen
ebenso
ergebnisarm,
wie
Recherchen
im
Internet.
Eine
Anfrage
beim
Max-Plank-Institut
brachte
eine
Fülle
von
Material,
die
nicht
angemessen
verwertbar
war,
weil
viel
zu
spezifisch.
Am
meisten
gaben
noch
Jahresberichte
des
Jugendpsychologischen
Dienstes
der
Stadt
Hannover
und
Informationen der Jugendberichtskommission des Bundestages her. Aus diesem Material war ein subjektives Bild mit objektiven Akzenten zu gewinnen.
Der
Tätigkeitsbericht
des
Jugendpsychologischen
Dienstes
der
Stadt
Hannover
verzeichnet
im
Jahre
1996
eine
Nachfrage
von
989
Kindern,
Jugendlichen
und
Bezugspersonen.
Diese
Zahl
ist
bis
2001
auf
1207,
also
um
fast
1/4
gestiegen.
In
2001
wurden
635
Kinder
und
Jugendliche
klinisch-psychiatrisch
diagnostiziert,
wobei
547
eine
mehr
oder
weniger
schwere
psychische
Störung
/
Erkrankung
aufwiesen.
D.h.:
lediglich
88
Kinder
und
Jugendliche
fielen
noch
in
den
Bereich
der
klassischen
Erziehungsprobleme.
Die
größte
Gruppe
von
Störungen
mit
68,3
Prozent
bilden
dabei
die
Verhaltens-
und
emotionalen
Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend, die ohne Behandlung in eine ausgeformte Neurose oder Persönlichkeitsstörung münden.
Die
Bestandsaufnahme
der
Jugendberichtskommission
die
mit
gesetzlichem
Auftrag
einmal
in
jeder
Legislaturperiode
zur
Lebenssituation
junger
Menschen
in
Deutschland
Stellung
bezieht
wird
von
der
Deutschen
Ärztezeitung
dahingehend
kommentiert,
dass
die
psychischen
Erkrankungen
zunehmen.
Laut
dem
elften
Kinder-
und
Jugendbericht
leiden
Kinder
und
Jugendliche
immer
häufiger
unter
psychischen
Störungen,
nämlich
zehn
bis
zwölf
Prozent
der
Kinder
im
Grundschulalter.
Bei
Jugendlichen
liegt
die
Quote
sogar
zwischen
15
und
20
Prozent.
Vor
allem
die
Gruppe
der
acht-
bis
15jährigen
steht
unter
hohem
Beschwerdedruck,
der
auf
psychische
Belastungen
zurückzuführen
ist.
Als
Gründe
werden
in
dem
Bericht
mangelnde
Aufmerksamkeit
und
Zuwendung
genannt.
Weiter
geht
es
in
dem
Bericht
um
das
Thema
Misshandlung
von
Kindern.
Bei
einer
Totalerhebung
an
der
Münchner
Universitätsklinik
wiesen
sechs
bis
neun
Prozent
aller
dort
behandelten
Kinder
Vernachlässigungs-
oder
gar
Misshandlungssymptome
auf.
Besorgniserregende
Steigerungsraten
in
zweistelliger
Höhe
waren
2000
im
Vergleich
zum
Vorjahr
bei
vollzogenem
Beischlaf
mit
Kindern
(plus
28
Prozent)
und
sonstigen
schweren
sexuellen
Misshandlungen von Kindern (plus 32,5 Prozent) zu verzeichnen.
Hintergründe
Da
das
statistische
Material
eher
knapp
oder
ungeeignet
ist,
möchte
ich
die
These
der
Veränderung
der
Problematik
junger
Menschen
noch
durch
„Indizien“
untermauern.
Gesellschaftliche
und
wirtschaftliche
Bedingungen
gestalten
die
Umwelt
von
Menschen.
Eltern
gestalten
die
Realität
ihrer
Kinder.
Aus
diesen
Hintergründen
ergeben sich neben der biologischen Disposition die Faktoren, die die Persönlichkeit eines Menschen formen.
1.
Wirtschaftliche Situation
Die
jungen
Menschen,
die
in
unseren
Wohngruppen
aufgenommen
werden,
sind
zwischen
10
und
17
Jahre
alt.
Ihre
Eltern
entstammen
einer
Generation,
die
keine
Kriegs-
bzw.
Nachkriegserfahrungen
(Entbehrungen,
Aufbaustimmung)
mehr
erlebt
haben,
deren
Sozialisationsbedingungen
von
guter
materieller
Versorgung
bis
Überversorgung,
von
sozialer
Sicherheit
bestimmt
waren.
Während
die
Kinder
älter
wurden,
veränderte
sich
die
wirtschaftliche
Situation
in
negative
Richtung.
Zwar
ist
wirtschaftlich
Not
oft
nur
relativ,
aber
sie
bedeutet
Verunsicherung.
Entsteht
Arbeitslosigkeit,
kommen
dann
reale
Veränderungen
in
der
privaten
wirtschaftlichen
Situation
hinzu,
bis
hin
zu
finanziellem
Notstand.
Für
Deutschland
gilt
deshalb
eine
erhöhte
Pro-Kopf-Verschuldung
(sogar
schon
bei
Jugendlichen).
Gleichzeitig
verschlechterte
sich
die
Zukunftsperspektive
–
auch
für
die
Jugendlichen.
Viele
der
Väter
und
Mütter
sind
dann
wegen
Arbeitslosigkeit
häufiger
zuhause.
Arbeitslosigkeit
steigert
den
Alkoholkonsum,
Beziehungskonflikte
werden
überdeutlich,
oft
unerträglich.
Viele
Jugendliche
berichten über Gewalttätigkeiten unter den Eltern. Nachgewiesenermaßen gibt es mehr Trennungen und wechselnde Partnerschaften.
Lebensplanungen
können
sich
heutzutage
nicht
mehr
an
eine
lebenslang
tragfähige
Berufsausbildung
anlehnen.
Damit
entsteht
eine
erhöhte
Anforderung
an
Flexibilität
und
eine
zunehmende
Lebensunsicherheit,
auch
bezüglich
der
Wertschätzung
beruflicher
Leistung.
Diese
Unsicherheit
wird
aktuell
noch
gesteigert
durch
die
in
allen
wirtschaftlichen
Bereichen
gestiegene
Forderung
nach
Effektivität
und
Überprüfbarkeit.
Gefordert
ist
immer
mehr
der
selbstbewusste
Spezialist, der bereit ist, sich immer wieder veränderten Anforderungen anzupassen.
2.
Kulturelle Situation
Unsere
Gesellschaft
fördert
die
Individualisierung.
Immer
mehr
Aktivitäten
lassen
sich
alleine
ausführen
(z.B.
Computerspiele).
Das
Solidaritätsprinzip
wird
weniger gelebt, als vielmehr institutionalisiert. Für selbstverständliche gemeinschaftliche Aktivitäten muß heute eine eigene Pädagogik herhalten
(Erlebnispädagogik).
Diese
kulturelle
Entwicklung
ist
geeignet,
dem
Einzelnen
das
Empfinden
einer
Sicherheit
in
einem
sozialen
Netz
/
in
einer
sozialen
Gemeinschaft nachhaltig zu nehmen und zu einer unangemessenen Forderungshaltung verkommen zu lassen.
Den
subjektiven
Leistungsmöglichkeiten
eines
Menschen
stehen
in
unserer
Kultur
perfekte
Leistungen
gegenüber,
die
nicht
zu
erreichen
sind.
Propagiert
werden
Weltrekorde
und
Goldmedaillen,
perfekter
CD-Sound,
unfehlbare
und
unverletzbare
Menschen
in
Spielfilmen,
etc.
Vor
diesem
Ideal
müssen
Kinder
und Jugendliche kapitulieren.
Die
Erlebenswelten
werden
immer
mehr
von
der
kurzfristigen
Erregung,
vom
Kick,
bestimmt.
Gefördert
wird
dies
von
den
High-Tec-Medien.
Der
schlichte
Genuss
erscheint
immer
ungenügender.
Der
Bezug
zur
alltäglichen
Realität
leidet
darunter.
Dies
schlägt
sich
auch
in
den
veränderten
Konsummustern
von
Suchtmitteln nieder.
Die
Shell-Studie
macht
deutlich,
dass
sich
junge
Menschen
in
ihrem
Weltbild
massiv
von
den
gesellschaftlichen
Bedingungen
beeinflussen
lassen.
Für
sie
sind
die
berufliche
Perspektivlosigkeit,
die
Umweltbelastung,
der
zunehmende
Informationsfluss
aus
aller
Welt
mit
fast
immer
negativen
Schlagzeilen
beeindruckende
Themen.
Meist
inhaltlich
oberflächlich,
aber
immer
emotional
beteiligt,
stellen
sie
unsere
Erwachsenenwelt
in
Frage.
Der
Reiz,
sich
darin
wiederzufinden lässt hierdurch erheblich nach, ohne dass für die heutige Jugend realistische Alternativen erkennbar wären.
Der
Weg
in
eine
multikulturelle
Gesellschaft
schafft
einerseits
eine
Pluralität,
die
Kreativität
hervorbringen
kann,
aber
sie
schafft
auch
Anforderungen
an
die
Bereitschaft, das Andere und Fremde anzunehmen.
3.
Familiensituation
Aus
den
Anamnesen
geht
immer
öfter
hervor,
dass
die
jungen
Menschen
in
unserer
Betreuung
unvollständige
Elternhäuser
und
zerrüttete
Familiensituationen
erlebt
haben.
Sie
erlebten
oft
mehrere
Trennungen
und
mussten
sich
an
neue
Bezugspersonen
gewöhnen,
was
oft
misslang.
Die
Berichte
in
der
Therapie
sprechen für Konkurrenzerlebnisse mit Stiefeltern und dem Eindruck zurückgesetzt bzw. vom neuen Lebenspartner des Elternteils abgelehnt worden zu sein.
Die
Erziehungshaltung
der
Eltern
hat
sich
verändert.
Die
Belastungen,
die
die
Eltern
selbst
erleben,
und
die
in
Problemfamilien
vorhandene
Eigenproblematik,
führen
zu
einer
nachlassenden
Bereitschaft
und
Fähigkeit
zu
erziehen.
Der
sich
über
lange
Jahre
entwickelnde
Verzicht
auf
rigide
Erziehung
–
auch
unter
dem
Einfluss
der
antiautoritären
Strömung
–
hat
sich
bis
hin
zum
Verzicht
auf
Erziehung
überhaupt
fortgesetzt.
Viele
Eltern
sind
verunsichert,
wie
sie
ihren
Kindern
richtig
begegnen
können.
Es
herrscht
sowohl
ein
Mangel
an
Grenzziehung
als
auch
an
Unterstützung
vor.
Zwangsläufig
erleben
sich
junge
Menschen
dann auch grenzen-, beziehungs- und orientierungslos.
Frühkindliche Störungen
Aus
den
genannten
Bedingungen
ergeben
sich
Störungen,
die
in
früherem
Lebensalter
anzusiedeln
sind,
bzw.
schwerwiegendere
Auswirkungen
auf
die
Persönlichkeitsbildung haben. Sie machen sich in einer Symptomatik mit mehr Krankheitswert bemerkbar:
ྕ
Abhängigkeitsverhalten
gegenüber
Suchtmitteln
oder
auch
suchtmittelfreie
Abhängigkeitsverhalten
sprechen
für
mangelnde
emotionale
Versorgung
im
Säuglingsalter,
sowie
für
eine
ungenügende
primäre
Bezugsperson,
der
die
Fähigkeit
zum
emphatischen
Verstehen
des
Säuglings
fehlte. In der Anamnese taucht nicht selten eine psychisch belastete oder gestörte Mutter und / oder ein problematischer Vater auf.
ྕ
Viele
der
Herkunftsfamilien
unserer
Jugendlichen
zeichnen
sich
durch
reale
oder
psychische
Unvollständigkeit
aus.
Entweder
fehlt
ein
Elternteil
oder
es
bestand
eine
erhebliche
psychische
Distanz
eines
Elternteils
zur
Restfamilie.
Durch
eine
übermäßige
Verbrüderung
vom
verbleibenden
Elternteil
gegen
den
abwesenden
Vater
oder
die
abwesende
Mutter
(„Du
bist
viel
besser
als
Dein
Vater“)
entstanden
dann
oft
massive
Identitätsprobleme oder strukturelle Störungen der Psyche.
ྕ
Erhebliches
Misstrauen
gegenüber
Erwachsenen,
Hinwendung
zur
augenblicklichen
Befriedigung,
Fehlen
von
Frustrationstoleranz,
Verweigern
von
Auseinandersetzungen
über
die
Zukunftsperspektive,
geringe
Leistungsbereitschaft,
labile
Emotionalität,
Mangel
an
Befriedigungserlebnissen
trotz vieler Befriedigungsmöglichkeiten sprechen oft für eine depressive Problematik.
ྕ
Manche Aggressivität wird als Konversion der depressiven Problematik erkennbar.
ྕ
Extrem
leichte
Verletzbarkeit,
überzogene
Selbstdarstellung,
Mangel
an
Beziehungsfähigkeit,
Zurückweisen
von
Ansprüchen
und
Konsequenzen,
Behaupten der eigenen Position gegen alle Realität, sprechen oft für eine Selbstwert-Problematik (narzisstische Problematik).
Entwicklung angepasster pädagogischer Ansätze
Solchermaßen
gestörte
junge
Menschen
sind
mit
einem
rein
sozialpädagogischen
Setting,
ohne
jede
psychologische
Beratung
und
/
oder
Psychotherapie
nur
ausnahmsweise
erreichbar
und
förderbar.
Andererseits
ist
in
einer
immer
breiteren
Grauzone
zwischen
psychischer
Erkrankung
und
reifungsspezifischer
Hilfebedürftigkeit
keine
Notwendigkeit
zu
einer
Behandlung
in
einem
psychiatrischen
Rahmen
erkennbar
und
nötig.
Darum
muss
die
pädagogische
Betreuung
in ihren Angeboten diese Problematiken berücksichtigen.
Die
belastenden
Erlebnisse
aus
der
Familie
sind
in
den
jungen
Menschen
noch
als
Erwartungen
an
andere
Menschen
und
als
Weltsicht
vorhanden.
Für
sie
bedeutet
ein
zwischenmenschlicher
Konflikt
eine
große,
oft
existentielle
Gefahr.
Sie
reagieren
in
der
von
ihnen
in
ihrer
Kindheit
erworbenen,
damals
überlebensnotwendigen Weise. Daraus ergeben sich notwendiger Weise veränderte Anforderungen an die Pädagogik:
•
Es
wird
immer
wichtiger,
unvermeidbare
Konflikte
gut
zu
gestalten.
Junge
Menschen
heute
schneller
narzisstisch
verletzt.
Hier
ist
eine
„professionelle“ Haltung bei PädagogInnen gefordert, die als Grundlage Kenntnisse über die eigene Verletzlichkeit benötigt.
•
Aggressionen
gehören
dazu.
Auch
bei
professioneller
Haltung
erleben
junge
Menschen
heute
Situationen
eher
als
bedrohlich
und
reagieren
unangemessen.
Solche
unangemessenen
Reaktionen
müssen
als
Teil
der
psychischen
Problematik
verstanden
werden,
damit
der
Betreuer
nicht
verletzt
ist und darum falsch reagiert.
•
Fähigkeiten
realistisch
beurteilen.
Heutzutage
besteht
eine
gesteigerte
Notwendigkeit
für
eine
pädagogische
Diagnostik,
damit
junge
Menschen
nicht
mit Verhaltens- und Leistungsforderungen überfordert werden.
•
Anbieten
von
Gemeinschaftserlebnissen
.
Die
Verlagerung
in
die
Einzelbetreuung
löst
die
augenblicklichen
Konflikte,
schafft
geringere
Spannungsfelder, behebt aber die Beziehungsproblematik der jungen Menschen nicht genügend.
•
Ziele
der
Jugendhilfe
neu
zu
definieren.
PädagogInnen
reagieren
durch
nachlassende
Erfolge
(gemessen
an
hergebrachten
Jugendhilfezielen)
frustriert bis resigniert. Um eine Gegenentwicklung einzuleiten, ist es unbedingt erforderlich, die Ziele der Jugendhilfe neu zu definieren.
•
Konzeptionelle
Weiterentwicklung.
Die
erkennbare
Zunahme
an
frühkindlichen
Problematiken
und
die
daraus
resultierenden
veränderten
pädagogischen Anforderung und Zielsetzungen müssen in Konzeptionen berücksichtigt werden.
•
Mitarbeiterförderung.
Die
Hintergründe
für
die
Verhalten
bzw.
Verhaltensveränderungen
der
jungen
Menschen,
sowie
die
daraus
resultierenden
pädagogischen
Konsequenzen
müssen
den
BetreuerInnen
in
Fortbildungen
vermittelt
werden.
Menschen
mit
frühkindlichen
Störungen
bewirken
in
ihren
Interaktionspartner
oft
kongruente
Reaktionen
und
erschaffen
so
ihre
verletzenden
Beziehungen
immer
wieder
neu.
Deshalb
bedarf
es
der
hochqualifizierten Supervision im pädagogischen Alltag Übertragung und Gegenübertragung aufzudecken und damit umzugehen.
Der
folgende
Aufsatz
ist
sicherlich
nicht
hochaktuell.
Er
bezieht
sich
auf
Grundlagen,
die
bis
in
das
Jahr
2002
reichen.
Meine
Gedankengänge
mögen
aber
zur
Aktualisierung
einladen
und
zu
einem
Vergleich
mit
den
Bedingungen heute. Gleichzeitig meine ich aber, dass meine Folgerungen für die Pädagogik noch hochaktuell sind.