Klaus Walter Coaching und Supervision

LESEPROBE

Erziehen ist eine Kunst

Gestaltpädagogik in der Jugendhilfe von Klaus Walter 2. überarbeitete Auflage Ab 1911 leitete Janusz Korczak das Warschauer Waisenhaus Dom Sierot. Er entwickelte seine Vorstellungen von Erziehung als Utopie einer friedfertigen, klassenlosen Gesellschaft. Als in der Nazizeit das Ghetto errichtet wurde, wurde das jüdische Waisenhaus nach dort verlegt. Am 22. Juli 1942 begann die Massentötung der Bevölkerung des Warschauer Ghettos im KZ Treblinka. Korczak hatte wiederholt die Möglichkeit, sein Leben zu retten. Er lehnte dies aber ab, weil er dies als Verrat an den Kindern betrachtete. Ihm und seinem Mut widme ich dieses Buch. Inhalt Vorwort ............................................................................................................................................................................................... 4 1. Einführung am Beispiel ................................................................................................................................................ 6 2. Gestaltpädagogik und aktuelle Situation in der Jugendhilfe .................................................. 9 2.1. Die Reformen in der Heimerziehung ................................................................................................... 9 2.2. Gestaltprinzipien in der Pädagogik .................................................................................................... 11 2.3. Jugend im Wandel .............................................................................................................................................. 14 2.4. Die Belastungen des Pädagogen in der Jugendhilfe ......................................................... 17 2.5. Integration therapeutischer Methoden in den pädagogischen Alltag .............. 19 3. Erziehungshaltung ........................................................................................................................................................ 24 3.1. Humanismus in der Erziehung ............................................................................................................... 24 3.2. Antiautoritäre Erziehung .............................................................................................................................. 26 3.3. Demokratische Erziehung ........................................................................................................................... 27 3.4. Konfluente Erziehung ...................................................................................................................................... 29 3.5. Die Erziehungshaltung des Gestaltpädagogen ....................................................................... 30 4. Prinzipien der Gestaltpädagogik ..................................................................................................................... 35 4.1. Bezug zur Gestalttherapie .......................................................................................................................... 35 4.2. Die Gestaltbildung und Figurbildung ................................................................................................ 37 4.3. Homöostase .............................................................................................................................................................. 46 4.4. Der ganzheitliche Mensch ........................................................................................................................... 49 4.5. Die Wirkung der Umwelt .............................................................................................................................. 55 4.6. Das Hier-und-Jetzt-Prinzip ......................................................................................................................... 59 4.7. Die Bewusstheit oder auch Achtsamkeit ...................................................................................... 63 4.8. Der Orientierungsrahmen der Gestaltpädagogik ................................................................. 67 5. Die Arbeit mit Gruppen ............................................................................................................................................ 86 5.1. Gestaltansatz und Gruppentheorien ................................................................................................ 88 5.2. Das TAO menschlicher Beziehungen ................................................................................................ 91 5.3. Ab wann ist eine Gruppe eine Gruppe? ................................................................................... 94 5.4. Der Gestaltzyklus des Erlebens in der Gruppe ...................................................................... 97 5.4. Die Gruppe im Gestaltzyklus des Erlebens ............................................................................. 110 5.4.1. Interessen und Figurbildung ...................................................................................................... 110 5.4.2. Aktivierung .................................................................................................................................................. 123 5.4.3. Handlung und Kontakt ..................................................................................................................... 131 5.4.4. Abschluss und Rückzug ................................................................................................................... 135 6. Das Erleben des Pädagogen ............................................................................................................................ 141 6.1. Die Pädagogin und der Gestaltzyklus des Erlebens ....................................................... 141 6.2. Diagnostik oder Hypothesenbildung ............................................................................................. 148 7. Psychische Entwicklung und Störungen ............................................................................................... 152 7.1. Das Energiekonzept ....................................................................................................................................... 152 7.2. Vermeidung ........................................................................................................................................................... 153 7.3. Psychische Störungen junger Menschen in der Jugendhilfe .................................. 158 7.4. Die gesunde psychische Entwicklung ........................................................................................... 160 7.5. Störungen in der psychischen Entwicklung ........................................................................... 163 7.6. Neurotische Störungen ............................................................................................................................... 164 8. Schlusswort ...................................................................................................................................................................... 172

Vorwort

Gestaltpädagogik in einem Buch zu vermitteln, erscheint widersprüchlich, denn sie fordert in ihrem Grundverständnis zum bewussten Erleben in der Gegenwart im „Hier-und-Jetzt“ - auf. Mein Ziel kann darum nur der Versuch sein, den Leser und die Leserin mit meiner Darstellung für das zu gewinnen, was ich eigentlich für wesentlich halte, nämlich Gestaltarbeit und ihre Anwendung in der Pädagogik selbst zu erfahren. Dieses Interesse möcht ich unter anderem durch praktische Beispiele wecken, die nach meiner Erfahrung auch von Ungeübten nachzuvollziehen sind. Sie sind hiermit eingeladen, wann immer Sie sich darauf einlassen mögen, eines der in diesem Buch dargestellten Übungsangebote zu erproben - in Ihren eigenen vier Wänden oder an Ihrem Arbeitsplatz - und dadurch sich selbst oder die Menschen in Ihrer Umgebung noch etwas mehr kennen zu lernen. Bei Selbsterfahrungsübungen, zu denen ich viele der Übungsangebote zähle, kann es immer wieder geschehen, dass Sie eine der Aufgaben vor ein Problem stellt und/oder Sie sie aus irgendeinem Grund nicht versuchen wollen. Mögliche Ursachen sind, dass Sie den Sinn darin nicht erkennen, keine Lust haben, sie auszuprobieren oder Sie eine emotionale Belastung befürchten. Lassen Sie sich in solchen Augenblicken nicht von einem Zwang leiten, z.B. Leistung erbringen zu wollen oder zu müssen, sondern vertrauen Sie auf ihre Gefühle. Es besteht in diesen Fällen keine Notwendigkeit eine Übung unbedingt auszuführen. Jeder Zwang ist gerade bei Selbsterfahrungsübungen absolut kontraindiziert und verhindert vielmehr, was eigentlich angestrebt wird. Alle Übungen, die ich Ihnen im Folgenden anbiete, sind in dieser oder in abgewandelter Form in meinen Seminaren für Gestalttherapie oder Gestaltpädagogik erprobt worden. Entweder habe ich sie in meiner eigenen Ausbildung kennengelernt und selbst erfahren, aus der Literatur abgeguckt und bei Bedarf für meine Zwecke abgewandelt oder ich habe sie selbst entworfen. Im Wesentlichen sind sie für die Fortbildung von Therapeuten oder Pädagogen gedacht, aber teils auch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen geeignet. Sie sind so angelegt, dass aus ihrer rücksichtsvollen Erprobung kein Schaden entstehen kann. Darum trauen Sie sich ruhig, ihre Anwendung auch in ihrem Arbeitsalltag auszuprobieren. Sind sie sich an einem Punkt dennoch unsicher, dann gilt auch hierfür, die Übung einfach wegzulassen. Wollen Sie die Übungen für die Selbsterprobung oder für die Anwendung bei der Arbeit abwandeln, so sollten Sie ihrer Kreativität nichts in den Weg stellen. Beachten Sie aber grundsätzlich das Freiwilligkeitsgebot: Niemand   darf   zu   einer   Übung   gezwungen werden,   auch   nicht   durch   Überredung,   denn mit jedem Zwang durchbricht man die Fähigkeit des Menschen, seine psychische Belastung zu regulieren und schafft Risiken, die sonst nicht vorhanden wären. Besonders würde ich mich natürlich freuen, wenn ich Sie anregen kann, in ihrem Beruf in Zukunft selbst mit Gestaltpädagogik zu arbeiten. Seien Sie versichert, wenn Sie lediglich dieses Buch lesen oder sich ausschließlich theoretisch mit Gestaltpädagogik und Gestalttherapie auseinandersetzen, bleiben sie an der Oberfläche ihrer Möglichkeiten. Erleben Sie ein weitergehendes Interesse, dann lassen Sie sich nicht abhalten, entweder die Teilnahme an einer Gestaltselbsterfahrungsgruppe oder eine Ausbildung in Gestaltpädagogik oder -therapie anzustreben.

1. Einführung am Beispiel

Zur Gestalttherapie bin ich aus Unsicherheit gekommen. Meine erste therapeutische Ausbildung zum Verhaltenstherapeuten hatte ich noch an der Universität begonnen, im Wesentlichen als theoretische Auseinandersetzung mit therapeutischen Methoden, erprobt mit studentischen Patienten. Dieser Hintergrund konnte mich nicht auf Menschen mit schwerwiegenden Problemen vorbereiten und vermittelte mir auch nicht die Fähigkeit, mich in mein Gegenüber sensibel einzufühlen. Nicht zuletzt gewann ich so auch keine verständnisvolle Perspektive für mich selbst. Ich erwarb zwar handfestes Wissen, stand aber meinen eigenen Gefühlsregungen, die im Patientenkontakt nicht selten aufkamen, sehr hilflos gegenüber, konnte sie nicht einsortieren. Besonders drastisch, aber auch heilsam erfuhr ich dies dann in der Jugendhilfe bei meiner Arbeit mit Arno. Als ich Arno das erste Mal sah, war er 15 Jahre alt. Damals trug er ausschließlich schwarze Kleidung und am liebsten lange Lederhosen. Seine Jacken und Hosen waren mit silbernen Ketten behängt und seine Haare pflegte er aufwendig, machte sie mit irgendeinem Mittel steif, so dass sie sich wie ein Hahnenkamm aufrichten ließen. Er war nicht der erste „Punk“, dem ich begegnete, aber ich hatte vorher keinen so intensiven Kontakt zu jungen Menschen mit einem solchen Äußeren und solchem Auftreten gesucht. Arnos Verhalten und seine ganze Selbstdarstellung wirkten auf mich so, dass ich mich abgelehnt und provoziert fühlte, und ich habe ihm gegenüber diese ablehnenden Gefühle erwidert, freilich ohne dass ich mir dessen anfangs bewusst war. Dabei war sein Verhalten bei seinen früheren Erlebnissen aus seiner Lebensgeschichte völlig verständlich. Er war in das Jungenheim, in dem ich als Psychologe arbeitete, aufgenommen worden, weil er in seinem Elternhaus nicht mehr zurechtkam. Sein Vater war, wie er mir später erzählte, aggressiv und streng. Arno bezeichnete ihn als "alten Nazi". Der Vater hatte ihn häufig und auch sinnlos verprügelt und Arno hatte den Eindruck entwickelt, ihm würde „alles“ verboten. Er hatte aber nicht kapituliert, sondern sich selbst eine abweisende und aggressive Haltung zugelegt, mit der er jetzt seinerseits seine Umwelt traktierte. Sätze, wie: „Willst du mich anmachen?“, „Ihr macht mich nicht platt“ oder „Verpißt euch, ich komme alleine klar“, waren seine Standards, die er auch mir gegenüber gebrauchte. Er benutzte sie, egal ob sie gerade auf die Situation passten oder nicht. Arnos Haltung hat mich damals verärgert. Ich war der Meinung, gute Absichten mit ihm zu haben, wollte ihm helfen und er lehnte mich einfach ab. Ich habe diese Ablehnung zwar von anderen Jugendlichen später noch häufig erfahren, aber bei Arno war sie für mich neu, traf mich unvorbereitet und verletzte mich. Nach meiner damaligen Auffassung war ich doch ein „guter“ Psychologe, weil ich meinen Ärger zurückhielt - mühsam, wie ich mich heute erinnere. Aber meine Versuche, mit Arno umzugehen, waren verkrampft. Wenn er wütend war, wurde ich äußerlich freundlich, was ihn noch mehr „auf die Palme brachte“, denn ich vermittelte den Eindruck, nicht erreichbar zu sein. So steigerten wir uns gegenseitig, er sich in Wut und ich mich in angespannte Freundlichkeit, hinter der ich meine eigene zunehmende Wut verbarg. Irgendwann habe ich es dann nicht mehr geschafft. Meine ganzen Anstrengungen waren umsonst und ich konnte meinen aufgestauten Ärger nicht mehr halten. Wir brüllten uns beide an: „Scheiß-Psycho“, „Rotzlöffel“, „Pisser“, „Halt den Mund“, ... . Wir waren nicht sehr wählerisch. Arno reichte es zuerst, er ging einfach. Aber er kam wieder. Wir hatten regelmäßige Treffen vereinbart und er blieb nicht fort. So gab er mir die Chance, mir klarer darüber zu werden, was der Hintergrund für unsere, seine und meine Verhalten war. Warum ich bei ihm über lange Zeit so erfolglos war, keinen Kontakt zu ihm bekam. In einem späteren Gespräch vertraute er mir an: „Als wir uns angemacht haben, Psycho, da fand ich dich stark“. Arno hat an meiner Entscheidung wesentlich mitgewirkt, mich fortzubilden und mich insbesondere der Gestalttherapie zuzuwenden, einer an Sensibilität und emotionalem Kontakt interessierten therapeutischen Orientierung. Je mehr ich Arno kennenlernte, desto mehr mochte ich ihn und kam mit seinem Verhalten besser klar, weil ich es allmählich verstand und nachempfinden konnte. Ich habe durch ihn viel über mich und meine Arbeit gelernt. Ich begriff, dass mein Dilemma in der Beziehung zu ihm zustande gekommen war, weil ich meine Gefühle nicht wahrnehmen wollte, sie nicht verstand und darum verleugnet hatte, statt zu ihnen zu stehen. Ich hatte mich für ihn verschlossen, ohne mir dessen bewusst zu sein. Meine Haltung war darum verkrampft, war mir dabei sicherlich ins Gesicht geschrieben, in meiner Mimik und Gestik erkennbar. Und so war für Arno meine Freundlichkeit ein Betrug, der seinen negativen Erwartungen gegenüber Erwachsenen entsprach. Ich habe in meiner Gestaltausbildung und in meiner begleitenden Lehrtherapie viele meiner Stärken und Schwächen kennengelernt und einige meiner eigenen „alten Wunden“ geheilt, die mich gehindert hatten, offen zu sein. Die Auseinandersetzung mit mir selbst hat mir geholfen, meine Gefühle besser wahrzunehmen, sie anzunehmen und sie besser auszudrücken. Heute versuche ich sie als freundliche Begleiter anzusehen, die mir helfen können, die Situationen mit meinen Patienten besser zu verstehen. So konnte ich begreifen, dass ich von Arno enttäuscht wurde und zwar im doppelten Wortsinn. Er frustrierte mich zum Einen, weil er sein Leben nicht so leben wollte, wie ich das für ihn gut gefunden hätte und ich mich auf seine Vorstellungen auch nicht einlassen mochte. Und zum Anderen nahm er mir meine Selbsttäuschung, nämlich meinen falschen Glauben, dass ich tatsächlich in seinem Sinne wirkte. Mir ist in unserer Beziehung deutlich geworden, dass ich ihm zuvor gar keine wirkliche Hilfe war, weil ich nach meinem eigenen Bedürfnis, also für mich gehandelt habe. Mir wurde klar, dass es einem anderen Menschen überhaupt nicht nützt, wenn ich ihm meine Ansichten aufzwingen möchte, selbst wenn mir das konkrete Ziel, dass ich dabei für ihn im Auge habe, noch so wichtig, wenn nicht gar unumgänglich erscheint. Ich habe begriffen, dass ich jemandem nur helfen kann, wenn ich bereit bin, ihn auf seinem Weg zu unterstützen und seinen positiven Entwicklungsmöglichkeiten vertraue. Bei meinem gestalttherapeutischen Arbeiten wurde mir immer deutlicher, dass ich die Gestaltprinzipien nicht auf meinen Arbeitsplatz begrenzte. Es wurde für mich ein Lebensprinzip. Sensibilität für mich selbst und andere, ganzheitliche Wahrnehmung, guter emotionaler Kontakt sind eben Eigenschaften, die nicht nur im therapeutischen Kontext Sinn machen, sondern allgegenwärtig sein sollten. Gestaltprinzipien können nach meiner Erfahrung in alle zwischenmenschlichen Begegnungen integriert werden. Das Thema dieses Buches ist die Integration von „Gestaltarbeit“ in die Pädagogik, genauer in die Jugendhilfe. In Fachzeitschriften und -büchern wird für die Übertragung von Gestaltprinzipien auf pädagogische Arbeit seit Jahren der Begriff „Gestaltpädagogik“ verwendet. Er ist eine Schöpfung aus dem Wort „Gestalt“, in dem Sinne, wie es in der Gestalttherapie verwendet wird, und dem Wort „Pädagogik“, eben dem Gebiet, auf das Prinzipien der „Gestaltarbeit“ übertragen werden sollen. Der Schwerpunkt der Entwicklungen in der Gestaltpädagogik lag zu Anfang auf der Neugestaltung von schulischem Unterricht, dem Versuch, in der Schule Methoden und Umgehensweisen einzuführen, die dem ganzheitlichen Denken und dem menschlichen Sein besser entsprechen. Da sich die Bedingungen in der Jugendhilfe von denen in einer Schule stark unterscheiden, muss die Gestaltpädagogik hier ein eigenes Gesicht erhalten. Die Möglichkeiten des Gestaltansatzes im Rahmen der vielfältigen pädagogischen Arbeit kann ich bei dieser Eingrenzung natürlich bei weitem nicht erschöpfend darstellen. Allein in meinem Tätigkeitsfeld als Psychologe in der stationären Jugendhilfe habe ich die Erfahrung gemacht, dass Gestaltarbeit bei der Supervision und Fortbildung von Pädagogen Ich gebrauche im Folgenden im spontanen Wechsel die männliche und die weibliche Schreibweise. Manchmal erscheint mir der Wechsel etwas verunsichernd für einen Leser oder eine Leserin, aber ich habe dennoch nicht darauf verzichten wollen und bitte um Ihre engagierte Nachsicht., bei der Organisationsberatung und bei der Therapie mit jungen Menschen erfolgreich ist. Es arbeiten aber auch Berater in Erziehungsberatungsstellen, in Kinder- und Jugendberatungsstellen, bei der ambulanten Familienhilfe etc. mit gestalttherapeutischen oder -pädagogischen Mitteln und es werden immer weitere Möglichkeiten der Integration des Gestaltansatzes in weitere Tätigkeitsfelder erfolgreich erprobt.