Klaus Walter Coaching und Supervision

Bingo: Therapeut auf vier Pfoten

Überarbeitet Juli 2021 Ich möchte in meinem Vortrag am praktischen Beispiel mit einigen theoretischen Begleiterscheinungen darstellen, dass ein gut erzogener Hund mit dem richtigen Wesen eine enorme Bereicherung für den Einsatz in der Psychotherapie mit psychisch kranken und seelisch belasteten jungen Menschen sein kann. Ich habe lange in den Sozialpädagogischen und Therapeutischen Wohngruppen der diakonischen Einrichtung Stephansstift gearbeitet. Zum Stephansstift gehörte ich seit 1981. Die Sozialpädagogischen und Therapeutischen Wohngruppen waren ein Bestandteil des Jugendhilfezweiges. Die jungen Menschen, die wir betreuten, waren zwischen 10 und 20 Jahren alt. Zur Jugendhilfe des Stephansstiftes gehörte ein Psychologisch-Therapeutischer Fachdienst mit einem hoch qualifizierten Team aus 7 approbierten Psychologischen und Kinder- und Jugendlichentherapeuten mit verschiedenster Ausbildung in den Richtlinienpsychotherapien und in so genannten Zweitverfahren. Unsere praktische therapeutische Arbeit hatten wir an die Bedingungen der Jugendhilfe adaptiert und dazu gehörten auch experimentelle Ansätze. Meine Klientel wies eine sehr differenzierte Problematik auf, wobei mir damals am meisten die Traumatisierungen und der hohe Anteil an narzisstischer Problematik auffielen. Die meisten der Jungen und Mädchen waren in ihrer psychischen Struktur schwach und in ihrer Affektregulation gestört. Viele „medikamentierten“ sich selbst mit Drogen, zeigten dissoziale oder auch selbstverletzende Verhaltensweisen. Ich hatte meine Arbeit in der Jugendhilfe mit verhaltenstherapeutischen Ansätzen begonnen. Ich musste aber bald erkennen, dass sich Verhaltenstherapie in dieser Umgebung zwar mit verschiedenen Trainingsformen eignet, die die Pädagogen auch als Mediatoren durchführen konnten, dass aber für eine weitergehende therapeutische Arbeit mit diesem Ansatz meist die erforderliche Disziplin und Aufmerksamkeit bei den jungen Menschen fehlte. So waren z.B. bei Angsterkrankungen kaum die nötigen Ratings für eine Angstskala zu erheben und die Desensibilisierungsprogramme wurde immer wieder mit eigenwilligem Verhalten unterlaufen. Zumeist waren die Probleme auch aus Entwicklungsverzögerungen, inneren Konflikten und Traumatisierungen zusammengesetzt, so dass die Therapie sich auch aus Anteilen von gezielter Förderung, pädagogischen Interventionen, alternativer Beziehungserfahrung und Erlebnisverarbeitung zusammensetzen musste. Ich suchte darum nach einer erlebnisnäheren, kommunikativeren Form der Therapie und sah dies mit der Gestalttherapie gegeben, mit der ich auch kindgerechtere, spielerische Elemente und Beziehungsarbeit in die Behandlung einfließen lassen konnte. Besonders die Ansätze von Violet Oaklander hatten es mir angetan, als ich meine Ausbildung 1985 begann. Nach einer Ergänzung dieses Ansatzes durch körperorientierte Therapieformen und tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie gewann ich dann mit der Weiterbildung in Psychoanalyse einen hervorragenden Bezugsrahmen zum Begreifen der Psychodynamik der Störungsbilder und eine deutliche Stärkung meiner Arbeitsfähigkeit in der Übertragung. Was mir bei all diesen Ansätzen aber immer wieder zu kurz kam, war eine hinreichend gute Möglichkeit, die Aufmerksamkeit meiner jugendlichen Patienten auf den gegenwärtigen Prozess, auf das Hier-und-Jetzt und die Beziehungsentwicklung zu steigern oder überhaupt erst anzuregen. Natürlich habe ich meinen Therapieraum auch immer mit kind- und jugendlichengerechten Anreizen ausgestattet gehabt, die gerne genutzt wurden. Aber ich habe auch immer wieder feststellen müssen, dass diese üblichen Anreize mit elektronischem Spielzeug nicht konkurrieren können und darum oft minder bewertet werden. Versuche mit dem Einsatz von Computern gab ich rasch wieder auf, weil die Beschäftigung damit nicht zu einer akzeptablen Beziehungsanbahnung führte. Die Erfahrungen haben mir insgesamt bestätigt, dass elektronisches Spielzeug im Sinne eines Suchtmittels auch als Widerstand gegen Bewusstwerden und Veränderung eingesetzt wird, so dass ich es für den therapeutischen Einsatz ausscheide. In meiner ersten Jugendhilfeeinrichtung, die noch in einer ländlichen Umgebung angesiedelt war, waren bis kurz vor meinem Eintritt noch Tiere gehalten worden. Die Ställe und Gatter waren noch vorhanden und ich hörte, wie die Pädagogen bedauerten, dass die Esel, Schafe, Kaninchen und das Federvieh abgeschafft werden mussten, weil sie von Jungen gequält worden waren. Bedauert wurde dies insbesondere, weil es „immer wieder die Gleichen“ gewesen seien, die andere angestiftet oder den anderen Jungen damit die Freude am Umgang mit Tieren genommen hätten und natürlich auch meinen erziehenden Kollegen und Kolleginnen. Ein paar Jahre später wurde ich beratend zuständig für eine ländliche, heilpädagogisch orientierte Jugendwohngemeinschaft, die sich in eine kleine dörfliche Gemeinschaft integriert hatte. Zum Konzept gehörte, dass man sich aus dem eigenen Garten und dem eigenen Stall mitversorgte. Zentral in der „guten Stube“, zu der man nach getaner Arbeit Zugang hatte, war ein sehr schönes und großes Aquarium, das von Jugendlichen und Pädagogen gemeinsam gepflegt wurde. In dieser Wohngemeinschaft fiel mir auf, wie die Versorgung der Tiere das Verantwortungsgefühl der Jugendlichen steigerte und sie den Zusammenhang von eigener Leistung und Ertrag gut erleben konnten. Ohne eine gute Versorgung der Hühner, ohne dass sie abends in den Stall gesperrt wurden, gab es am nächsten Morgen kein Ei. Und für die über das Jahr gemästeten und zum Advent geschlachteten Gänse gab es von den Nachbarn neben Geld, auch Anerkennung und kleinere Zuwendungen. Im Grunde war ich also durch meine berufliche Jugendhilfesozialisation bereits auf eine tierische Spur gebracht worden, als ich Bingo kennen lernte. Mein Hund Bingo war ein Malamut-Collie-Mischling. Er arbeitete in seinen 15 Lebensjahren sehr lange in seiner Funktion als „Co-Therapeut“ oder therapeutische Stütze mit mir zusammen. Ich nahm ihn nicht in jede Behandlung mit, sondern wählte die Jugendlichen aus, mit denen ich eine tiergestützte Therapie begann. Zu den Auswahlkriterien möchte ich später noch kommen. Bingo war also nur tageweise im Psychologischen Dienst des Stephansstiftes vertreten. Trotz meiner Vorerfahrungen war sein beruflicher Einsatz eigentlich nicht geplant, als er als Welpe aus meiner Zweierbeziehung eine Familie machte. Auf den Gedanken brachte mich erst sein bemerkenswertes Wesen und seine Lernfreudigkeit, die er mit Kunststücken und als Zughund vor dem Sulky demonstrierte. Viele Hundebesitzer unserer Umgebung reagierten verblüfft auf seine Fähigkeiten, auf verbale Befehle zu reagieren. Links und rechts zu unterscheiden, auf Befehl nach etwas zu suchen, in jedem Kontext ein „nein“ als Aufforderung zu verstehen, die gerade ausgeführte Handlung zu unterlassen, schien für ihn problemlos möglich. Als die Idee aufkam, ihn in unserem Beruf einzusetzen, setzte ich mich sehr intensiv mit Hundecharakteren auseinander und erzog ihn gezielter. Leider war es zu jener Zeit noch nicht weit verbreitet, Hunde in die pädagogisch- therapeutische Arbeit einzubeziehen, so dass ich nur über Internetkontakte speziellere Unterstützung fand. Aber ich lernte auch hochinteressierte und hilfsbereite Hundetrainer kennen. Heute bietet u.a. die Universität Basel sogar einen zertifizierten S tudiengang für tiergestützte Therapie an. Bingo vereinigte durch seine Anteile des nordischen Schlittenhundes die Freude am Kontakt zum Menschen, am Erfüllen einer vom Menschen gestellten Aufgabe, mit Gelehrsamkeit, die seine Collie-Anteile mit sich brachten. In der Auseinandersetzung mit der Inuit-Kultur fand ich z.B. immer wieder den Hinweis darauf, dass der absolut menschenfreundliche Husky dort Aufgaben der Kindererziehung delegiert bekommt. Und die kluge „Lassie“ ist ja bei uns älteren Jugendlichen noch ein Begriff. Bingo war ein ausgesprochener Rudelhund. Bereits als ganz junger Hund freute Bingo sich über jeden Besuch von Kindern, nahm ihre Launen und manchmal auch derben Zuwendungen nicht übel, begriff sehr schnell, wenn es besser war, sich dezent und gelassen zurückzuziehen und den richtigen Augenblick abzupassen, wenn sich wieder die Möglichkeit zum Kontakt und zum Spielen bot. Im Rudel griff er zwar immer in Kämpfe ein, wenn sie auszuufern drohten, aber nie aggressiv, sondern stellte sich mit seiner immer beachtlicher werdenden Größe zwischen zwei „Streithähne“ quer und unterband damit einfach die Nähe und den gefährlichen Augenkontakt. Ähnliches Verhalten konnten wir auch bei uns Zuhause beobachten, wenn bei uns der Haussegen einmal schief hing. Hier konnte er natürlich nicht in den Blick treten, aber er wechselte bei einem lauter werdenden Tonfall in einer Streitsituation von einem zum anderen oder suchte sich den jeweils Bedürftigeren aus. Und trösten konnte er auch, mit seinen braunen Augen, einer sanften Pfote auf dem Knie und, wenn man wollte, auch mit seinen Eigenschaften als „Knuschelhund“ auf dem Sofa. Seine Lernfähigkeit und seinen Gehorsam musste er dann in einem langen Training unter Beweis stellen, in dem er lernte, nicht nur auf Worte, sondern auch auf Hände und Gesten zu gehorchen. Diese wortlosen Signale waren mir wichtig, weil ich in den Behandlungen die analoge Kommunikation nicht durch sprachliche Befehle stören oder zerstören wollte. Bei diesem Training halfen erfahrene Hundeführer aus unserem Bekanntenkreis und ein engagierter Hundesportverein in der Nähe unseres Wohnortes. Leider fand ich in einer zumutbaren Entfernung keine Möglichkeit zu einer Spezialausbildung von der ich gehört hatte, so dass ich auf meine beruflichen Fähigkeiten als Psychotherapeut, auf die Internetdiskussionen mit Fachleuten und auf das ausführliche Literaturstudium zurückgreifen musste. Wer ein Tier in seiner Arbeit einsetzen möchte findet heute in der Umgebung Hannovers, in der Wedemark, den Verein für Soziales Lernen mit Tieren. http://www.lernen-mit-tieren.de/

Theoretische Überlegungen

Es ist nicht empfehlenswert, einen Hund ohne jegliche Vorbereitung mit in eine Institution zu nehmen. Ich halte es vielmehr für unumgänglich, dass man den Einsatz eines Tieres sorgfältig plant und gut überlegt und dass nicht nur bei psychisch kranken und belasteten Kindern und Jugendlichen. Damit meine ich nicht nur, dass man den geplanten Einsatz anspricht und eine geeignete Umgebung schafft, sondern auch, dass man diagnostisch abwägt. Rahmenbedingungen Egal ob Sie ein Tier in einer Einrichtung einsetzen wollen oder in ihrer eigenen Praxis, es ist erforderlich, dass Sie dafür sorgen, dass dieser Einsatz von allen Betroffenen mitgetragen wird. Es ist erstaunlich, wie sehr eine nicht informierte oder ablehnende Umgebung ein Klima installieren kann, dass therapeutische Tätigkeit stört oder sogar unmöglich macht. Ich kann dies aus einer problematischen privaten Nachbarschaft und meinem Versuch ableiten, in diesem Kontext selbständig zu arbeiten. Die Bereitschaft sollte aber nicht nur bei möglichen Vorgesetzten und Kollegen, sondern auch beim sonstigen unmittelbaren räumlichen Umfeld hergestellt werden. Neben dem Psychologischen Dienst im Stephansstift gab es zum Beispiel eine therapeutische Wohngruppe für Kinder. Von diesen Kindern wurde Bingo jedes Mal mit Begeisterung empfangen, so dass er mit seiner Anwesenheit einen starken Einfluss auf pädagogische Interventionen und auf das Klima ausübte. Eine Gruppenaktivität vor dem Haus konnten die pädagogischen Kollegen für einen kurzen Augenblick getrost vergessen. Zu meinem Glück waren die Kollegen sehr tierlieb und freuten sich selbst über den Kontakt, bezogen Bingo für den Augenblick in die Aktivitäten einfach mit ein. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ich bereits auf dem Weg vom Auto zum Büro ein Hindernis zu überwinden gehabt. Es ist also von absolutem Vorteil, dass der Hund allseits nicht als Störung, sondern als Bereicherung erlebt wird. Es ist deshalb sinnvoll, den Hund aktiv einzuführen, indem man ihn vorstellt und seine Aufgabe beschreibt. Ich bin im Stephansstift noch darüber hinaus gegangen und habe den Einsatz von Bingo in einem Artikel unserer einrichtungsinternen Zeitung dargestellt. Fragen, die immer wieder gestellt wurden, sind die nach der Haftpflicht und der gesundheitlichen Gefährdung der Patienten, zum Beispiel durch Parasiten. Diese Fragen habe ich erstaunlicherweise nie in einem privaten Kontext gehört, in der Bingo als Familienhund wahrgenommen wurde. Aber in einer Institution treten sie vermutlich zwangsläufig auf. Und selbstverständlich musste ich diesen Fragen angemessen begegnen können, eine entsprechende Haftpflichtversicherung abschließen, mich veterinärmedizinisch sachkundig machen, Bingo durch unseren Tierarzt regelmäßig untersuchen lassen und Gesundheitszeugnisse vorweisen können. Und natürlich musste ich mir bewusst sein, dass Bingo ein Tier bleiben würde, dass dem Wolf sehr nahe ist- man sah es ihm ja auch an. Eberhard Trummler, ein Wolfsforscher und Autor vieler Bücher über Hundeerziehung, hat nicht umsonst darauf hingewiesen, dass wir unserem Hausgenossen Hund auch Respekt zollen müssen, weil er so ein soziales Wesen besitzt und seine Zähne nicht ohne Not gegen uns verwendet, mit denen er viel Schaden anrichten könnte Trummler, Eberhard - Der Schwierige Hund, 1987. Ein Hund benötigt an unserem Arbeitsplatz eine Rückzugs- und Fütterungsmöglichkeit, die vom Therapieraum abgesondert ist. Man muss dem Hund in den Zeiten, in denen er nicht aktiv ist, einen Platz außerhalb des Therapieraums anbieten können, der ihm vertraut werden kann, an dem er sich wohl fühlt. Vielleicht ergibt sich ja auch einmal der Bedarf oder die Notwendigkeit, eine Stunde ohne ihn fortsetzen zu müssen. Auch in diesen Fällen muss er irgendwo gut versorgt sein. Ein Hund benötigt während unserer Arbeitszeit vielleicht auch sein Fressen. Das Fressen sollte vom Therapieraum getrennt passieren, so dass der Napf oder der Fütterplatz nicht zur störenden Ablenkung wird. Ich ließ Bingo zum Beispiel auch nie von Patienten füttern, weil ich davon Irritationen in der Beziehungsentwicklung erwartete. Das Füttern ist für mich ein Teil der spezifischen Bindung zwischen Hund und Hundeführer, aus dem sich noch eine besondere Aufmerksamkeit und Gehorsamkeit ergibt, die ich nicht mit meinen Patienten teilen möchte. Im Konfliktfall sollte es ja für Bingo keine Loyalitätsprobleme, sondern nur eindeutige Orientierung geben. Da es aber manchmal im Spiel zwischen Bingo und Patient lebhaft zuging, benötigte er einen Wassernapf im Behandlungszimmer. An meinem Arbeitsplatz hatte ich zudem eine Rückzugsmöglichkeit für Bingo in meinem Büro geschaffen, in dem er unter meinem Schreibtisch einen Schlafplatz neben meinen alten Hauslatschen hatte, so dass er ein vertrautes Aroma vorfand. Und in diesem Raum gab es eine Ecke, in der sein Futternapf stand. Diagnostik Es macht zum Einen keinen Sinn, wenn ein Patient von der tiergestützten Therapie nicht profitieren kann, weil er das Tier nicht als Gegenüber erkennt, keine Du-Evidenz entwickelt. Zum anderen darf ein lebendiges Tier in den Augen des Patienten auch deshalb nicht zu einem Gegenstand werden, weil die Gefahr groß ist, dass es dann zu aggressiven Übergriffen kommen und der Hund misshandelt werden kann. Dass ein Hund unter der therapeutischen Situation zu leiden hat, muss völlig ausgeschlossen werden. Gelingt dies nicht, wird er nicht ja nur leiden, sondern auch seine Gutmütigkeit verlieren, womöglich jemanden verletzen und nicht mehr in der Therapie eingesetzt werden können. Wir müssen wissen, dass gerade bei emotional labilen jungen Menschen ein domestiziertes und unterordnungsbereites Tier allzu leicht Machtambitionen und Aggressivitäten auf sich ziehen kann. Aber bei guter Vorüberlegung und bei aufmerksamer Beobachtung der Vorgänge zwischen Tier und Mensch profitiert auch das Tier von dem Erfolg in seiner Aufgabe und genießt die Zuwendung. Von Bingo kann ich sagen, dass er sich auf „seine“ Patienten freute und nicht eine negative Erfahrung gemacht hat. Ein wesentliches Kriterium für den Einsatz Bingos in einer Therapie war für mich also, dass der junge Mensch ein Tier als empfindendes Lebewesen begriff und hinreichend in seiner Selbstbestimmung respektierte. Hinreichend genügt, weil Bingo seinerseits mit seiner Form der non-verbalen Kommunikation und seinem Sozialverhalten vieles korrigierte, worüber ja ein wichtiges Teil des beabsichtigten sozialen Lernprozesses initiiert wurde. Die Mindestvoraussetzung musste sein, dass in einer Anfangsphase eine Begegnung auf Distanz möglich war, bis sich Du-Evidenz und Respekt eingestellt hatten. Meist musste ich darauf nicht lange warten, denn gerade die analoge Kommunikation zwischen Hund und Mensch erweitert den Personenkreis enorm, der sich auf ein Erleben einer subjektiven Zweisamkeit (Du-Evidenz) einlassen kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich selbst viele junge Menschen mit strukturellen Störungen auf den regressiven, von tiefem Mit-Einander-Erleben und Ohne-Worte-Verstehen bestimmten Kontakt einlassen konnten und in guter, emotional stabilisierender Weise davon profitierten. Ausschlusskriterien: o Dissoziale Störungen Nach meiner Erfahrung gelingt es allerdings Jugendlichen mit schweren dissozialen Störungen oft nicht, Mensch und Hund als ein lebendiges und fühlendes Gegenüber zu erleben, sich mit dem Erleben anderer Lebewesen zu identifizieren, Emotionen anderer nachzuvollziehen. In diesem Fall besteht natürlich immer die Möglichkeit und Gefahr, dass aus dem enttäuschenden Unverständnis, meist schon aus geringster Frustration eine Enttäuschungsaggression wird, die dann unter Umständen in ein quälerisches Spiel von Macht und Ohnmacht mündet, dass der Hund zu ertragen hätte. Ein solches Risiko bin ich in keinem Fall eingegangen und habe Bingo nicht eingesetzt oder erst nach längerer Abklärung und Absicherung. o Angstpatienten In meinem Bekannten- und Freundeskreis gibt es eine Reihe von Menschen, die Angst vor Hunden haben. Zu meiner Freude begannen diese Menschen nach relativ kurzer Zeit zwischen „den Hunden“ und Bingo zu differenzieren und ihn anzunehmen. Dies korrespondiert mit meiner Erfahrung, dass ich in meinen Behandlungen keinen Patienten mit einer generalisierten Angststörung erlebt habe, dessen Angst sich auf Bingo in einer Weise übertragen hätte, dass der Kontakt nicht möglich gewesen wäre. Selbst bei Patienten mit ausgesprochener Hundephobie, waren diese im Kontakt rückläufig. Bingo wurde oftmals sogar als eine Art Beschützer erlebt und dann über identifikatorische Prozesse zum verinnerlichten Symbol eigener Stärke. Allerdings bin ich der Auffassung, dass dies ein Effekt ist, der für viele, aber nicht zwangsläufig für alle Hunde gilt. Dieser Vorgang hat mit einer ganz eindeutig de-eskalierenden Art zu tun, die nicht alle Hunde zeigen. Hunde können die Angst eines Menschen spüren und sie in ihrem verhalten berücksichtigen. Dennoch glaube ich aber auch, dass es extreme phobische Reaktionen gibt, die den Einsatz eines Hundes oder eines anderen Tieres in der Therapie erst einmal ausschließen. o Aggressive Gruppen Ich habe Bingo nicht mit in eine Gruppe mit hohem Aggressionspotential genommen, weil ich zum Einen in der komplexen Situation die verschiedenen Wechseleinflüsse nicht hätte überschauen können und weil ich nicht sicher gewesen wäre, ob sich nicht als Gruppenphänomen die Aggressionen gegen das untergeordnete Mitglied, nämlich den Hund, richten würde. Dieses Phänomen hatte in meiner ersten Jugendhilfeeinrichtung zur Abschaffung der Tiere geführt. Therapeutische Effekte Bingo zog oft Aufmerksamkeit auf sich. Er besaß für die meisten Kinder und Jugendlichen eine außerordentliche Attraktivität, wegen seiner Größe, seiner Rasse und seiner Lebensfreude. Für viele meiner Patienten war es eine Belohnung, endlich Therapie „bei Bingo“ machen zu dürfen. Bingo stellte also die Beziehungen her, die ich für die therapeutische Arbeit nutzen konnte. Bingo hatte sehr viel Erfahrung mit schwierigen sozialen Situationen. Er fand sich darin aber sehr gut zurecht, konnte sicher mit Nähe oder Distanz umgehen, stellte sie seinerseits her, zog sich wenn nötig auf einen sicheren Platz zurück, oft an meiner Seite auf dem Sofa. Die jungen Menschen konnten dabei durch Beobachten und Identifikation lernen, wie ich mit ihm umging und wie man sich verhalten muss, dass Bingo Interesse entwickelte, Berührung zuließ und genoß. Über die Vorgänge in dieser Situation, die ich bereits als therapeutisch verstehe, sprach ich oft mit meinen Patienten. Es kamen dabei Fragen auf, warum Bingo zu mir kommt, sich leicht locken lässt, aber nicht auf harsche Kommandos eingeht, warum er manchmal auf Distanz bleibt oder sich gar abwendet. Dieses Verhalten konnte ich in Bezug setzen zu dem Auftreten des jungen Menschen, z.B. zu seiner Ungeduld, die ihn zu einem aggressiven, fordernden Tonfall in der Ansprache Bingos verführten oder zu seiner Befürchtung, enttäuscht zu werden, die ihn viel zu schnell resignieren ließen. In manchen Situationen regte Bingo auch projizierende Fantasien an und der Patient konnte sich dann damit auseinander setzen, dass ich Bingo vermeintlich mit heimlichen Befehlen veranlassen würde, sich defensiv zu verhalten. Das ich ihn sozusagen für mich alleine haben wollte. So lernten die jungen Menschen bereits in der Anfangsphase viel über ihre individuelle Art und Weise, Kontakt zu einem Lebewesen, also auch zu anderen Menschen aufzunehmen. Sie lernten begreifen, mit welchen Gefühlen, mit welchen Verhaltensweisen sie sich einem Lebewesen nähern und wie sie Erfolg und Misserfolg in der Beziehung dadurch beeinflussen konnten. Und sie machten erste Erfahrungen mit sich selbst, mit ihren negativen Erwartungen und Befürchtungen, aber auch mit ihren unerfüllten Wünschen Bingo war im sozialen Kontakt ein sehr großzügiger Hund, der Beziehungsprobleme ausglich, indem er immer wieder „nachfragte“, ob jemand Interesse hat, sich mit ihm abzugeben. Seine Frage verpackte er oft in das Vorweisen eines Spielzeugs, in ein Spielangebot. Somit wechselten sich Annäherungs- und Rückzugsphase im therapeutischen Kontakt zwischen Bingo und Jugendlichem ab, in Abhängigkeit vom Verständnis, dass sich zwischen beiden entwickelte. Bingos Verhalten war in all diesen Zusammenhängen für mich auch von unschätzbarem, diagnostischen Wert. Er ließ sich weniger beirren und reagierte in manchen, sich verändernden Situationen rascher als ich, so dass seine Reaktionen für mich zum Indikator der emotionalen Zustände meiner Patienten werden konnte. Dabei konnte ich mich darauf verlassen, dass ihm auch subtile Veränderungen nicht entgingen. Und in einem Zweifelsfall konnte ich meine Einschätzung auch durch sein Verhalten verifizieren lassen. Sonderfall Trauma Ich arbeitete auch mit Mädchen, die durch Männer traumatisiert worden waren und gewalttätige körperliche und / oder sexuelle Übergriffe erlitten hatten. Ich hatte mich lange mit der Frage auseinandergesetzt, ob es nicht grundsätzlich angemessener gewesen wäre, in einem solchen Fall eine Kollegin, also eine weibliche Therapeutin tätig werden zu lassen. Ich konnte diesen Grundsatz für mich letztlich nicht mehr festlegen. Es gibt für mich gewichtige Gründe, die dafürsprechen, dass auch männliche Therapeuten für traumatisierte Mädchen erforderlich sind: o Viele sexuell missbrauchte und körperlich misshandelte Mädchen haben ihr Trauma in der eigenen Familie erlitten. Und sie mussten dabei nicht selten erfahren, dass sie von der Mutter nicht geschützt, wenn nicht sogar dem Täter zugeführt wurden. In vielen Behandlungen habe ich erlebt, dass sich diese Mädchen einer Therapeutin nicht anvertrauen mögen, weil in ihrer Rückerinnerung der Vertrauensbruch sogar schlimmer wiegt, als die Misshandlung und / oder weil sie eine mütterliche Person nicht als Schutz vor einer Re-Traumatisierung wahrnehmen können. o Misshandelte und missbrauchte Mädchen benötigen nicht selten zunächst alternative, positive Erfahrungen mit einem männlichen Objekt, damit sie sich hierdurch gestärkt dem Trauma nähern können. o Und betroffene Mädchen brauchen in der Traumabearbeitung nicht selten auch eine Projektionsfläche für ihre negativen Übertragungen, also einen männlichen Therapeuten, den sie mit ihren Aggressionen, ihren Enttäuschungen, aber auch mit ihrer aufzulösenden Opferhaltung konfrontieren können. Wesentlich für traumatisierte Menschen ist, dass sie den therapeutischen Rahmen als absolut sicher erleben. Nach meinen Erfahrungen war Bingo in diesen Therapien oftmals der dritte Anwesende, der die Situation sicher machte. Er wurde dabei vom Kind oder Jugendlichen als Garant für die Sicherheit erlebt, als jemand, der aufpasst und nicht wegguckt. Die Jugendlichen bemerkten dabei rasch, dass er mit seinem sensiblen Gespür auf den Plan trat, wenn es galt, aus einer Situation die aufkommende Spannung herauszunehmen. Er war auch dann da, wenn eine Erinnerung zu stark wurde, um sie alleine zu ertragen oder Ablenkung nötig war, aber ein Mensch nicht zu nahetreten durfte. Er konnte die gefährlichen Lücken der Sprachlosigkeit füllen, indem er immer bereit war, einem rollenden Ball zu folgen oder auf seinen ausgerufenen Namen hin aufmerksam zu werden. Über ihn lies sich auch gut reden, über seine Probleme, wenn er als guter Hund unter böse Hunde geraten oder in der großen weiten Welt alleine gelassen würde. Und man konnte sich dann einig sein, dass es uns Menschen manchmal genauso geht. So stellte Bingos Anwesenheit Vertrauen und ein Gefühl von Verstanden-Werden her, dass sonst vielleicht monatelang auf sich hätte warten lassen oder gar nicht eingetreten wäre. Bingos Eigenschaft als verbindendes Glied unterstützte die therapeutische Beziehung und zwischenmenschliche Bindung. Er spannte mit seiner Anwesenheit und seiner Bezogenheit auf alle Anwesende ein Beziehungsdreieck auf, in dem dann eine gesunde Autonomieentwicklung forciert wurde. Der Patient konnte darin auf mich als Therapeuten Negatives projizieren, auf mich böse sein und sich durch Bingos Anwesenheit trotzdem sicher fühlen, weil Bingo das Beziehungsdreieck aufrechterhielt. Der Patient spürte, dass er die Beziehung nicht riskierte, konnte sich durch diese Sicherheit auch auf die Bearbeitung seiner negativen Projektionen einlassen. Er musste sein Autonomiegefühl nicht über den Therapieabbruch sichern und damit in eine pseudo-autonome Haltung flüchten. Ein Hund ermöglicht eine relativ gefahrlose Regression auf einen non-verbalen Zustand, in dem affektive Beziehungserfahrungen möglich werden, die Qualitäten einer Beziehung von Mutter und Säugling haben, die also von einem tiefen affektiven Verständnis gekennzeichnet sind, wobei der Hund die Affektlage und auch die Bedürftigkeit des Patienten durch seine angemessene Reaktion quasi deutet. Diese Deutung durch Handlung kann dann noch durch verbale Deutungen des Therapeuten unterstützt werden, so dass die Affektdifferenzierung und –integration gefördert wird. Für diese weitergehende verbale Deutung ist natürlich die wesentliche Voraussetzung, dass der Therapeut die non-verbale Sprache seines Hundes einwandfrei versteht. Der große Vorteil eines sozial gesunden Hundes ist seine emotionale Eindeutigkeit. Er spielt nichts vor, wertet nicht und nimmt jede Situation als neue Möglichkeit. Eine negative Erfahrung, wie ein versehentlicher Tritt auf die Pfote, lässt sich bei ihm nachvollziehbar mit Zuwendung ausgleichen. Er versteht den beschwichtigenden bedauernden Tonfall des Übeltäters und die Beziehung stellt sich für den Hund immer als Summe positiver und negativer Erfahrungen dar, deren Bilanz durch die nächste angemessene Handlung wieder aufzubessern ist. Die Handlungen eines Hundes sind von großer Eindeutigkeit, wenn man sich auf das Verstehen seiner „Sprache“ erst einmal eingelassen hat. Durch seine wiederkehrenden und nachvollziehbaren Reaktionen ist er ein sicherer Partner. Seine Direktheit lässt den Patienten dabei intuitiv begreifen, dass der Hund keine moralische oder moralisiernde Instanz in die Beziehung einbringt. Ihm gegenüber reduzieren sich darum die Schamreaktionen und die Schuldfragen, so dass er zum vorurteilsfreien Zuhörer wird. Schluss Bingo hat seine Arbeit ganz offensichtlich sehr gerne getan. Es war deutlich zu bemerken, dass sein Dienst für ihn eine Bereicherung seines „Hundelebens“ war. Ich hatte immer den Eindruck, dass er beigeistert wahrnahm, dass man Interesse an ihm hatte und ihn brauchte. Zu seinen Dienstzeiten wartete er oft erwartungsvoll auf „seinen“ nächsten Patienten. Er hat seine, den Menschen zugewandte Haltung bis an seinem letzten Tag bewahrt, an dem ich ihn gehen lassen musste. In diesem für mich undendlich traurigen Augenblick hat dieses liebe Wesen meine Trauer wahrgenommen, suchte mir nahe zu sein und mich zu trösten. Literatur: Reinhold Bergler: Warum Kinder Tiere brauchen Graham Ford u. Andrea Beetz (Hrsg.): Tiere als therapeutische Begleiter Greifenhagen, Sylvia von & Buck, Oliver: Tiere als Therapie – Neue Wege in Erziehung und Heilung. Olbrich, von E. / C. Otterstedt (Hrsg.): Tiere als therapeutische Begleiter (2001), Menschen brauchen Tiere (2003)
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Dies ist ein Erfahrungsbericht über meine Arbeit mit einem ausgebildeten Therapiehund in einer stationären Jugendhilfeeinrichtung und eine Homage an meinen treuen Freund Bingo.
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