Die Kreation Die dicke Nanni war eingeschlafen. Sie saß auf ihrem gemütlichen Lehnstuhl, schaukelte noch ein wenig im Rhythmus ihrer Atemzüge und gab Geräusch von sich, die einer Baumsäge alle Ehre gemacht hätten. Jave war erfreut darüber, dass sie ihn nicht mehr im Auge behielt. Nun konnte er tun und lassen, was er wollte, so lange es nicht zu laut geriet. Die Eltern waren wieder einmal ausgegangen, vermutlich zu Donars, den Nachbarn, zu denen sie eine gute freundschaftliche Beziehung pflegten. Wahrscheinlich redeten sie wieder den ganzen Abend über irgendwelche Wetterarten und hatten ihren Spaß daran, verschiedene Kreationen zu erfinden. Jave schlich sich in die Werkstatt seines Vaters, die praktischer Weise gleich hinter dem Wohnraum gelegen war und die der Vater wieder einmal zu verschließen vergessen hatte. Schon immer hatte er ein großes Interesse für die ganzen Materialien besessen, die hier sorgfältig voneinander getrennt aufbewahrt wurden. Er hatte seinem Vater oft bei der Arbeit zugesehen, durfte hier und da auch einmal kleine Handreichungen machen. Aber der Vater hatte ihm absolut untersagt, eigene Mischungen der verschiedenen Elemente vorzunehmen, hatte dies immer als gefährlich dargestellt. Im Grunde war Jave ja ein recht gehorsames Kind. Aber mit seinen Hinweisen auf die möglichen Folgen und die unberechenbaren Ereignisse, die eine falsche Mischung hervorrufen könne, hatte der Vater mehr die Neugierde, als die Zurückhaltung seines Kindes geweckt. Jave betrat den Raum und sein Blick erfasste die aufgereihten Gefäße, die augenblicklich sein ganzes Interesse auf sich zogen. Da waren durchsichtige Behälter mit grell leuchtendem, glitzerndem und phosphorizierendem Inhalt, in anderen wimmelte und glibberte es und wieder andere blieben auf dem ersten Eindruck unscheinbar. Jave wusste aber, dass diese beim Öffnen manchmal ganz eindrucksvolle Gerüche verströmen konnten. Er hatte gesehen, wie der Vater Mischungen herstellte, Kugeln formte, die Oberfläche mit den Inhalten einiger Flaschen bestreute, gelegentlich auch aus den Schubladen seiner Schränke noch hier und da eine ganz besondere Zutat hinzufügte. Jedes fertige Werkstück wurde dann „ausgesetzt“, wie es der Vater formulierte. Und als der Sohn nachfragte, was das bedeute, hatte er als Antwort gesagt bekommen, dass er später einmal das Versuchslabor besuchen dürfe, um zu sehen, was mit den ausgesetzten Stücken geschehe. Der Vater hatte ihm auch die enorme Größe des Versuchslabors beschrieben und erklärt, dass man es nur mit besonderen Sicherheitsauflagen betreten dürfe, damit der Versuchsaufbau keinen Schaden nähme. An seinem letzten Geburtstag hatte ihm der Vater dann das Geschenk gemacht, dass er ihn zum Labor begleiten durfte. Er durfte zwar den Versuchsaufbau nicht betreten, aber er konnte durch ein riesiges Panoramafenster darauf schauen. Und was er sah, raubte ihm den Atem. Doch daran dachte Jave jetzt nicht. Er traf vielmehr rasch seine Auswahl, öffnete eine große Dose, entnahm ihr einen sehr warmen Werkstoff, den er mit seinen Händen recht geschickt zu einer Kugel formte. Je mehr er das Material drückte und dabei verdichtete, desto wärmer wurde es. Schließlich fand er es an der Zeit, dass er eine weitere Schicht kühleren Gemischs darüberlegen müsse. Auch gab er etwas kalte Flüssigkeit hinzu, ohne so recht zu wissen, was er damit zuwege brachte. Es war vielmehr die kindliche Intuition und der Spaß an den Farben, die ihn leiteten. Ganz zuletzt streute er noch ein wenig grünen Staubes und eine Prise aus dem wimmelnden Gefäß hinzu, sah dann sein Werk als vollendet an. Doch er hatte bei der ganzen Freude an seinem Tun das Gefühl für die Zeit verloren. Und so kam es, dass er auf dem Höhepunkt seiner kindlichen Glückseligkeit erschreckt vernahm, dass im Wohnzimmer die heimgekehrten Eltern mit der Nanni sprachen. Ein heilloser Schreck durchfuhr ihn und er hätte sich am Liebsten in einem der Schränke verkrochen, aber es war zu spät. Einen Moment später hatte der Vater bereits die offene Tür zur Werkstatt bemerkt und das Unheil geahnt. Nun stand er mit sehr ärgerlichem Gesicht in der Tür und Jave wusste, was auf ihn zukommen würde. Es wurde zunächst einmal eine grässliche Standpauke, die er ertragen musste. Wie in solchen Momenten bei Erziehenden durchaus üblich, war der Vater nicht geneigt, sich seinen eigenen Fehler einzugestehen, nämlich die Tür nicht verschlossen zu haben. Nein, diese Schuld vergrößerte lediglich den Elan seiner Schelte. Und er drückte auch die Sorge um den Sohn nicht aus, sondern lies sie einen Umweg über Vorhaltungen nehmen. Erst als alle diese Dinge abgearbeitet waren, warf der Vater einen Blick auf Javes Werk. Und dabei konnte er erkennen, dass es eigentlich ganz passabel gelungen war. Mochte es das gute Beispiel des Vaters gewesen sein, von dem er gelernt hatte, mochte es auch nur der Zufall gewesen sein, jedenfalls vermochte der väterliche Stolz zu guter Letzt den väterlichen Zorn überwinden. So tadelte er Jave zum Abschluss nur noch halbherzig. Aus Gründen der erzieherischen Konsequenz wurde der Sohn dennoch frühzeitig zum Schlafen geschickt. Die Mutter äußerte noch, dass es trotz der gelungenen Konstruktion eigentlich pädagogisch wertvoll und angemessen sei, die Kugel zum Recylen zu geben, aber sie konnte sich gegen ihren Gatten nicht durchsetzen. Am nächsten Tag durfte Jave also den Vater zum Labor begleiten, damit das Erschaffene ausgesetzt werden würde. An der Schleuse zum Versuchsaufbau fragte er seinen Sohn sogar, wie er sein Werkstück denn nennen wolle. Jave barst nahezu vor Stolz. Und als er die kleine blau- grüne Kugel mit einem sanften Stoß in den dunkelblauen Raum beförderte, der nur von kleinen schwebenden Lichtpünktchen erhellt wurde, als sie von den magnetischen Kräften der Laboreinrichtung an ihren berechneten Platz geleitet und dort verankert wurde, da sagte Jave: „Ich nenne sie Erde“.