Der Froschkönig Mit einem hellen Jauchzer und einem Riesensatz sprang Jeremias in das kühle Wasser in dem festen Glauben, dass dies einer der Momente war, wofür es sich zu leben lohnte. Seine Haut war von der strahlenden Maisonne aufgeheizt und nun bedeutete der Augenblick des Absprungs den erregenden Höhepunkt vor dem Eintauchen in das nasse Element, das einen prickelnden Gegensatz zu der Hitze des Tages vermitteln würde. Natürlich würde er dann auch noch eine Weile mit offenen Augen tauchen und sich wieder einmal nicht satt sehen können, an den wohlgeformten Schenkeln um ihn herum. Er würde unter Wasser bleiben, bis seine Lungen das Gefühl vermittelten, dass sie gleich bersten würden. Nach einem solchen Tag am Badeteich, saß er gerne noch mit seinen Freunden zusammen und lies die Erlebnisse mit ihnen Revue passieren. „Hast Du die Kleine mit den etwas schräg stehenden Augen gesehen? Man hatte die …. „. Solche und andere unziemlichen Bemerkungen machten dabei die Runde und man versuchte sich mit den Beschreibungen gegenseitig zu übertrumpfen, so lange, bis allen der Appetit auf ein aufregendes, aber noch nicht erreichbares Abenteuer wieder einmal einen unruhigen Schlaf bescheren würde. Jeremias hatte, wie alle seine Freunde, den Wunsch endlich ein Mann zu sein und seine sexuelle Lust ungehemmt ausleben zu können. Aber manchmal, da verlor er alle diese Freuden und Erwartungen aus dem Blick. Dann verdammte er sein Dasein als Frosch, das er für gering erachtete, für unscheinbar und unbedeutend. Gewiss war es auch der Ungestüm seiner Jugend, der ihn nicht nur zu Taten und leider auch zu Untaten anstiftete, sondern mit dem er einfach keine Grenzen anerkennen mochte und am Liebsten nach den Sternen gegriffen hätte. Jeremias war unzufrieden mit der Zukunft die ihn erwartete. Irgendwie waren seine Familie und die ganze Ansiedlung seit jeher an diesen Ort gebunden und keiner der versucht hatte, ihn zu verlassen, war jemals wieder zurückgekehrt. Nein, es war nicht einmal irgendeine Nachricht von ihnen eingetroffen. Und die Alten wussten zu berichten, dass es das graue Niemandsland sei, das Land mit dem harten Boden und den bunten Riesenfelsen, die sich brummend fortbewegten, welches die unüberwindliche Barriere darstellte und vielen mutigen Auswanderer das Leben gekostet hatte. Die meisten von Jeremias Mitfröschen trauten sich darum nicht einmal in die Nähe dieser gefährlichen Gegend. Jeremias aber hatten diese Reden nicht abgeschreckt. Er hatte sich nicht nur einmal bis an die Grenze des Niemandslandes vorgewagt, war aber immer wieder zurückgewichen, wenn einer der riesigen Felsen vorübergebraust war. Er hatte, ein kluger Frosch der er war, sogar versucht, eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Erscheinen dieser Riesen zu erkennen, auf das eine sichere Lücke zu berechnen gewesen wäre. Aber der heilige Storch, der Hüter über Leben und Tod am Weiher, hatte kein Einsehen mit ihm gehabt. So musste Jeremias erkennen, dass das Rätsel von ihm nicht zu entschlüsseln war oder dass es eben keine Regelmäßigkeit gab. Und als auch noch der ebenso einfältige wie großmäulige Zachiel aus der Parallelklasse seiner Schule in einem wahnwitzigen Augenblick an ihm vorbei auf die graue Fläche gesprungen war, nur um einen kurzen, schrecklichen Augenblick später von einem Felsen erfasst und zermalmt zu werden, da war sich Jeremias gewiss, dass dieser Wall heimtückisch und unüberwindlich war. Der kleine Frosch aber gab seine Sehnsucht nicht auf. Er wollte etwas ganz besonderes sein und sich nicht einfach mit dem zufrieden geben, was er hatte und bekommen sollte. Die genussvollen Erlebnisse am Weiher verblassten angesichts seiner Ambitionen nach größeren Zielen. Es lag ihm nicht daran, als der bester Fliegenfänger seiner Abschlussklasse zu gelten oder später für möglichst viele Quappen der Vater zu sein. Er wollte einfach die Enge seiner Vorbestimmung verlassen. Und eines Nachts hatte er einen Traum: Er saß am Weiher und da trat ein Menschenkind an ihn heran. Gewiss, unter Fröschen hatte man mit Menschenkindern schon viele schlechte Erfahrungen gemacht, doch dieses Mädchen war irgendwie anders. Es war nicht dieser goldene Reifen, den es um die Stirn trug und auch nicht die glitzernden Steine auf seinem Kleid. Dieses Mädchen hatte eine Ausstrahlung, die dem kleinen Frosch vermittelte, dass ihm keine Gefahr drohe und hier ein Wesen sei, das mit seiner eigenen Bestimmung ebenso unglücklich war, wie er selbst. So lies er es geschehen, dass das Menschenkind ihn vorsichtig auf die Hand nahm und ihm sagte, was für ein wunderschöner Frosch er sei. Er sei so schön, dass sie sich wünsche, er sei ein verzauberter Prinz und sie könne ihn zum Gemahl nehmen. Und dann kam dieses Gesicht immer näher, wurde größer und größer. Es wurde so groß, dass sich Jeremias für einen kurzen Moment in seinem Traum ängstigte, dass er nun gefressen würde. Aber dann berührten ihn die Lippen nur sanft am Maul. Und im gleichen Moment umflutete ihn ein helles Licht, so dass er die Augen schließen musste. Er spürte, wie er sich veränderte, größer wurde und stärker. Und als er die Augen wieder öffnete und an sich herabsah, da nahm er wahr, dass er auf zwei Beinen aufrecht auf der Erde stand, die nun schwindelerregend weit von ihm entfernt schien. Und er trug auch ein wunderschönes Gewandt und eine goldene Kette vor der Brust. So rasch, wie es ihm möglich war, trat er an den Weiher heran und betrachtete sich im Spiegel des Wassers. Und als er sich so sah, da erkannte er, dass er der verwunschene und nun erlöste Prinz Ferdinand war, den einst eine böse Hexe aus lauter Bosheit in einen Frosch verwandelt hatte. Doch gerade als er sich umwenden und die Hand seiner Prinzessin ergreifen wollte, spürte er ein Schütteln an seiner Schulter. Es war das Rufen seiner Mutter, das ihn vollends aus dem Schlaf riss: „Jeremias, aufwachen, du musst zur Schule“. Das Erwachen war ein Scheußliches, aber Jeremias war sich nach diesem Traum gewiss, dass er ein verzauberter Prinz sein müsse. Und weil ihn seine Freunde immer weniger verstanden und seine Spinnereien verspöttelten, sonderte er sich immer mehr ab. Seine Schulleistungen ließen nach und man sah ihn, wie er tagaus tagein am Weiher auf das Eintreffen seiner Prinzessin wartete. So verging eine lange Zeit und er wuchs unterdes zu einem jungen Mann heran. Ohne dass er sich dessen so recht ins Bewusstsein drang, war es eines Tages soweit, dass er sich fortpflanzen durfte. Aber all die Freude, die er sich davon früher versprochen hatte, erschien ihm schal. Und die kleinen Quappen, die ihn später „Papa“ riefen, waren ihm nur lästig. So wurde der Akt zur Pflicht, der lediglich ein wenig dazu beitrug, die innere Unruhe zu mildern, aber nicht, sie zu bewältigen. Es verging noch mehr Zeit und Jeremias verzagte bereits ein wenig, als eines Tages sein Warten dadurch beendet wurde, dass eine fremde Melodie an sein Ohr drang so ganz anders als der Gesang seiner Froschgemeinschaft - und ein Lied mit einem für ihn unverständlichen Text seine Aufmerksamkeit gewann: „I scream into the night for you - don´t make it true. Don´t jump, don´t suicide“. Die Musik kam näher und der kleine Frosch wurde immer neugieriger. Und dann sah er sie auf sich zuschreiten. Sie war vielleicht genauso jung, wie die Prinzessin in seinem Traum. Sie hatte wundervoll schwarzes Haar mit grünen Strähnen darin und ihr Gesicht glitzerte von kleinen Ringen, die durch ihre Haut gebohrt waren. Ihr Gewandt war schwarz wie die magische Nacht und an einigen Stellen schimmerte sogar ihre blasse Haut hervor. Sie musste über magische Kräfte verfügen, denn sie beherrschte das Feuer, das sie in einem kleinen weißen Röhrchen eingeschlossen mit sich trug. Nur ein kleiner Rauchfaden war davon zu sehen. Und er konnte erkennen, dass die Musik von einem kleinen, flachen Zauberkasten ausging, den sie in der Hand mit sich trug. Jeremias Herz schlug immer schneller und er sprang ihr entgegen. Er sah ihren geheimnisvoll schwarz geschminkten Mund und hatte nur noch den einen Wunsch, ihn zu erreichen. So nahm er Anlauf für den wohl mächtigsten Sprung, den er in seinem Leben jemals vollführt hatte. Und mit der ganzen Macht der unerfüllten Sehnsucht erreichte er sein Ziel, traf mit feucht-schleimigem Froschmaul auf weiche Mädchenlippen. Kurz gesagt, Jeremias verwandelte sich natürlich nicht in einen Prinzen. Er fiel vor den Füßen seiner vermeintlichen Prinzessin ins Gras, blieb benommen liegen und die Reaktion des angewiderten Mädchens folgte rasch. Sie ergriff ihn und mit kräftigem Schwung sowie einem „eehh booh, spinnst Du“, warf sie den kleinen Frosch auf den nächstbesten Stein, auf dem er jämmerlich zerbarst. Jeremias umflutete in dem kurzen Übergang vom Dies- zum Jenseits noch kurz ein helles Licht. Es blieb ihm gerade noch die Zeit zu denken, wie schmerzhaft doch seine Verwandlung sei. Und so mag es tröstlich sein, dass er auch für den letzten Moment in seinem Leben noch daran glauben konnte, dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war.